Hannes blickt ins Grüne

Mein Sohn Hannes blickt ins Grüne. Die Aufnahme entstand durch meinen langjährigen Kampfkunstkollegen und Freund Matthias Schwabe, während des gemeinsamen Trainingslager der Karate-Schulen Otomo und Ouchi im polnischen Riesengebirge.

Matthias Schwabe hat zu diesem Foto einen Brief an meinen Sohn geschrieben (es ist nicht der erste Brief dieser Art). Diesen Brief irgendwo abzulegen und zu speichern wäre schade, deshalb habe ich mich entschlossen ihn hier zu veröffentlichen. Ich wünsche interessante Einsichten beim Blick ins Grüne!

Mensch Hannes!

Nun siehst Du Dir die Welt ja schon recht genau an und ich kann Dir  sagen: Der Blick ins weite Grün wird immer einer der erquicklichsten sein!  Sicher, es gibt immer wieder die eine oder andere visuelle Attraktivität, der  man sich nicht entziehen kann, ganz gleich ob aus Stein, Wasser, Erde  oder Fleisch und Blut. Kommt alles noch, ganz gewiß. Aber das Grün zieht  schließlich jeden in seinen Bann. Nur tut es dies nicht ganz so ordinär wie  das Feuer, das den Blick, hat man ihn einmal in seine Flammen  gerichtet, gar nicht mehr freigeben möchte. Das Grün dagegen hält sich  oft im Hintergrund. Und Du wirst merken: solange die Menschen noch einen  grünen Hintergrund haben, solange bleibt die Zukunft doch  hoffnungsvoll.

Leider wird es nicht lange dauern und Dir wird klar, wie  unterschiedlich das Grün von den Betrachtern gesehen wird. Klar, das Grün ist  so vielfältig wie der Nachthimmel Sternbilder trägt. Doch mit Verwunderung  erkennst Du plötzlich: des einen Grün ist tatsächlich ein Blau! Und schon  entsteht das babylonischste Farbwirrwar! Diese Tatsache an sich wäre für eine  bunte Welt ja noch nicht schlecht. Nein, sogar ein glücklicher Umstand wäre  das! Doch jeder erklärt seinen speziellen Farbton zu DEM Grün, weil er weiß,  daß es ohne Grün nicht geht. Also macht man sich das Grün so zurecht, wie es  einem gefällt. Strahlt es nicht herrlich, dieses Rot? Es gibt doch nichts  schöneres! Also laßt es unser Grün sein!

Wohl dem, der mit einer Rot-Grün-Schwäche gesegnet ist!

Es bedarf doch einiger Erfahrung (und als ergrauender Halbverlebter hab  ich ein wenig davon eingesammelt), um zu erkennen, daß sich die Beliebigkeit  im Farbentausch doch immer schön an die Oberflächlichkeit in der Betrachtung  klammert. Gerade so, als sei sie eine Klette aus dem Distelmeer in der Wiese  hinterm Haus. Beim genaueren Hinsehen – nachdem man sich gefragt hat, warum  das sogenannte „Grün“ denn so gelb, lila oder grau erscheint – erkennt man  dann, daß all die uns täglich um die Augen schwirrenden Farben manchmal  gemeinsam ein nicht unbeachtliches Grün ergeben. Es lohnt sich also, die  Details zu betrachten und sich das eigene Grün aus den wertvollen  Bestandteilen zusammen zu setzen. Nur wirklich grün sollte es am Ende  sein!

Sieh es Dir also genau und ganz in Ruhe und so oft es geht an! Du wirst  schließlich viel Freude daran finden und bei allem Grau, das Dich vielleicht  an manchen Tagen umgeben mag, gern daran denken. Vielleicht wird unter Deinen  Freunden ja auch mal ein Baum sein. Er wird Dich sicher nie enttäuschen! Mögen  alle anderen ihre Farbe auch noch so oft wechseln, er wird Dich jedes Jahr mit  frischem Grün erfreuen! Mit ihm und seinen Artgenossen kannst Du sehr  viele Freunde gewinnen, denn alles Grün macht Dir nichts vor! Denn es muß ja  alljährlich ganz ehrlich ergrünen, da gibts kein wenn und  aber!

Sei also nicht ängstlich, wenn Du bald erkennst, wie oft die Menschen  die Farben wechseln, vom meist nicht anwesenden Grün reden und sich gar als  das Grün ausgeben, was ja schon aufgrund einer passenden Hautfarbe unmöglich  ist! Vielleicht ist deshalb so oft von kleinen grünen Männchen die Rede, weil  wir eine Sehnsucht nach wirklich grünen Wesen in uns spüren, die letztlich  doch dem Menschen ähnelnde Züge tragen und mit dem Grün anständig umgehen.

Wer weiß?

Man muß auch an das Grün glauben. Zumindest einen Herbst und  Winter lang. Ein himmlisches Grün wurde den Menschen zu allen Zeiten  versprochen. Aber sieh nur nach oben! Wo soll es denn sein, wenn nicht gerade  ein nächtliches Nordlicht vorüberzaubert!?

Bleib also mit beiden Füßen am Boden und richte den Blick immer wieder  mal ins Grün! Deine Eltern werden Dir sicher oft genug eine Gelegenheit dazu  bieten!

Grüße aus dem Grünen!

Matthias