Kintsugi – Die Schönheit der Unvollkommenheit
Eine Hand legt sich auf meine Schulter. Es ist Marc aus der aktuellen Retreat-Gruppe. Er sieht mir fest in die Augen »Qiu, weißt du was? Du bist ein perfekter Kintsugi.« Ins Schwarze getroffen, Marc. Ich spüre es, denn mit einem Mal wird mir warm und kalt zugleich. Genau das ist es. Seit Monaten ist es mir wichtig, dass ich für mich selbst an diesen Themen arbeiten kann. Denn auch meine Lebensuhr tickt und einige Brüche sind noch nicht richtig geheilt. Denn ich bin nicht wertvoll trotz meiner Brüche, sondern genau durch diese bin ich so voll und ganz. Mit Kintsugi habe ich das Brennglas darauf gerichtet.
»Denn ich bin nicht wertvoll trotz meiner Brüche, sondern genau durch diese bin ich so voll und ganz.«
Thomas Qiu Hönel ...
Was ist Kintsugi?
Kintsugi, auch bekannt als Kintsukuroi, ist mehr als das Reparieren zerbrochener Keramik. In dieser japanischen Kunstform werden Risse nicht versteckt, sondern bewusst hervorgehoben – mit Lack, dem Gold, Silber oder Platin beigemischt wird. So entstehen Objekte, deren Brüche Teil ihrer Geschichte sind – sichtbar, geschätzt und kunstvoll veredelt.
Eine Philosophie hinter der Technik
Diese Gefäße erzählen von Heilung, Stärke und Individualität. Ihre Narben sind kein Makel, sondern Ausdruck von Resilienz. Der Einsatz edler Materialien steht dabei nicht nur für ästhetischen Anspruch, sondern auch für Wertschätzung und Achtung gegenüber dem Objekt.
Kintsugi fasziniert durch seine Gegensätzlichkeit: Es erfüllt einen praktischen Zweck – das Wiederherstellen eines Nutzgegenstands – und ist gleichzeitig tief symbolisch. Es verweist auf unsere Fähigkeit, Verluste zu verarbeiten und dabei etwas Neues, vielleicht sogar Schöneres, entstehen zu lassen.
Die Wurzeln von Kintsugi liegen im jahrtausendealten japanischen Handwerk „Urushi“. Anfangs diente der Japanlack allein der Funktionalität. Erst im 15. und 16. Jahrhundert wandelte sich der Blick – auch beeinflusst von der Teezeremonie, in der sich eine neue Ästhetik durchsetzte: weniger Pracht, mehr Natürlichkeit.
Kintsugi als Metapher
Parallel entwickelte sich das Konzept des Wabi-Sabi, das eng mit dem Zen-Buddhismus verknüpft ist. Wabi steht für Einfachheit und auch Einsamkeit, Sabi für Alter und Vergänglichkeit. Schönheit zeigt sich hier nicht im Glanz des Perfekten, sondern im Wandel, im Gebrochenen, im Unfertigen.
Für uns im Westen ist diese Sicht ungewohnt. Wir neigen dazu, Brüche zu kaschieren. Kintsugi stellt diese Haltung infrage – und inspiriert.
Mein persönlicher Bezug zur Unvollkommenheit
„Kintsugi ermutigt mich dazu, anzuerkennen, dass Unvollkommenheit meine kalligrafischen Arbeiten authentisch macht und dennoch ihre eigene Schönheit besitzt. Diese Schönheit liegt gerade im Kontrast – in den Brüchen zwischen meinem handwerklichen und künstlerischen Anspruch und gleichzeitig meinem Verzicht auf sogenannte Perfektion.“Thomas QIU Hönel ...