Der Elternabend

Kai Schmidt ließt sich die Mail noch einmal genau durch. Einladung zum Elternabend seiner Großen. Achtzehn ist sie jetzt und an einem, freien, Gymnasium. Es gibt Trouble, gestörtes Verhältnis der Klasse zur Klassenleiterin, Unklarheiten zur Klassenfahrt, offene Gelder, eine ganze Liste heißer Eisen. Mit gemischten Gefühlen macht sich Kai auf den Weg. Er ist pünktlich, schließlich machte sich sein Smartphone mit einer Erinnerung bemerkbar. Die war eindeutig: Elternabend 19:00 stand da, also los.

Das Klassenzimmer füllt sich, die Stühle stehen kommunikativ in einem Oval. Die Klassenleiterin reicht den Eltern mit aufgesetzter Fröhlichkeit die Hand. Auch die Schulleiterin, früher hätte man sie es die Direktorin genannt, grüßt jovial am Eingang „Hallo, lange nicht gesehen.« Stimmt, Kai hatte sie eine ganze Weile nicht gesehen. Hoppla, und wer ist das? Einige junge Damen nahmen auch Platz. Schülerinnen der Klasse? In der Einladung stand davon nichts, was machen die hier, fragt sich Kai. Man nimmt Platz und setzt ernste Miene auf. Eine der engagiertesten Mütter hat sich vorbereitet und wird die Moderation übernehmen. Also nicht die Klassenleiterin und auch nicht die Schulleiterin, ein Novum.

Um Ausgewogenheit bemüht startet die Moderatorin in den heiklen Abend »Wir wollen gemeinsam nach Lösungen suchen.« so sagt sie. Nach kurzem Wortwechsel und dem Eingeständnis der Klassenleiterin, dass es Schwierigkeiten gibt, wird plörtzlich die Schulleiterin aktiv und reißt das Ruder an sich. Sie stellt nun die Schülerinnen zur Rede, Kai ist erstaunt und sprachlos über das nun folgende Verhör. Die jungen Damen sind ihrerseits verunsichert und können kaum mit Argumenten punkten. Kommen aber dann doch auf Touren, vor allem eine junge pfiffige, nennen wir sie Elisa, befreit sich zur Wortführerin und agiert nun ungezwungener und freier ohne aber richtig bissig zu werden.

Da klinkt sich wieder erwarten aus der stummen Elternriege eine Mutter ein. Sie spricht Klassenleiterin und Schulleiterin direkt an »Und was gedenken sie nun zu tun? Und warum müssen hier eigentlich die Schülerinnen Rede und Antwort stehen?“ Betretene Gesichter, beide notieren sich heftig irgendwelches Zeugs in ihre Notizbücher. »Oh, mit mir spricht wohl niemand?« stellt die Mutter fest. Das wird ja immer kurioser, denkt Kai. Die Beiden können ja nicht mal antworten, unglaublich. Auch Stille aus der Moderatorinnenecke. Eigentlich müsste jetzt ein Handtuch fliegen aber hier wird schließlich nicht geboxt. Nun endlich lenkt die Direktorinschulleiterin ein und merkt an, dass sie um eine Antwort ringen musste und jetzt nun antwortet. Wieder werden die Schüler zerlegt aber auch kleine Mängel eingestanden.

Kai sinkt immer mehr auf seinem Stuhl zusammen. Nein, er kann sich hier nicht reinhängen, hat er doch seiner »Großen« versprochen sich herauszuhalten. »Papa, wir ziehen jetzt noch die anderthalb Jahre durch. Macht jetzt kein Riesenfaß auf.« Das war eine klare Ansage.

Was nun hier läuft erinnert ihn an erbärmliche Szenen seiner Schuljahre an Schulen an denen »allseitig gebildete sozialistische Persönlichkeiten« geformt wurden. Tja, denkt Kai, Erwachsene können in jedem System ihr erbärmliches Spiel treiben. Immer tiefer treibt ihn die Scham auf seinen Schulholzstuhl. Hoffentlich ist das Treiben bald vorbei, so hofft Kai. Erst nach knallharten fünfundneunzig Minuten löst sich die Runde auf.

Kai wird bis Mitternacht nicht zur Ruhe kommen und zeitig in den frühen Morgenstunden aufwachen. Mit sich hadernd und immer noch voller Scham den jungen Menschen gegenüber, für die er sich, nach seinem Verständnis von Wahrhaftigkeit und Aufklärung, zu wenig eingesetzt hat. So ist also, das Erwachsensein, flüstert er zu sich selbst und setzt sich an seinen Laptop. Er schaut auf den noch leeren Monitor, den kalten Nachtwind im Rücken und blickt gen Osten wo sich langsam zögernd die Sonne erhebt.