Für die Sächsische Zeitung gab ich im Kontext zu Stressbewältigung und Reslienz im Januar 2021 ein Interview. Auszüge dieses Interviews veröffentliche ich hier.
Corona hat unser Leben auf den Kopf gestellt. Der Lockdown hat mindestens geliebte Gewohnheiten genommen, vielen sogar die finanzielle Grundlage. Wie kann ich mich mental rüsten, um auf kommende Umbrüche besser vorbereitet zu sein?
Die erste und wichtigste Erkenntnis ist, dass Hindernisse und Krisen zum Leben dazugehören. Irgendwann müssen wir lernen, das zu akzeptieren. Solange wir jung sind, können wir das vielleicht noch von uns wegschieben, aber es kommt der Punkt, wo alles funktionieren muss: Die Familie muss zusammengehalten werden, die Partnerschaft klappen, das Haus abbezahlt werden. Alle anderen bekommen das doch auch hin – der tolle Post auf Facebook, die schöne Frau, das neue Auto in der Garage. Aber was verbirgt sich wirklich dahinter? Ist die Frau vielleicht krank, der Kontakt zu den Eltern schon lange abgebrochen? Es ist gut zu erkennen, dass wir mit unseren Krisen nicht alleine dastehen. Nur so können wir den verbreitetsten Stressor in unserer Gesellschaft mindern, den emotionalen Stress.
Nur weil es meinen Mitmenschen noch schlechter gehen könnte, darf ich mich nicht mehr beschweren?
Doch. In der Bewältigungsphase ist es sogar wichtig, sich einzugestehen, wie schlecht es mir geht, dass ich nicht mehr schlafen kann und mein Herz permanent rast. Es darf nur nicht in Scham abgleiten. Wenn ich zum Beispiel 20.000 Euro Schulden habe, ist es weder meine Schuld noch eine Schande. Wir sollten uns immer wieder vergegenwärtigen, dass wir mit dem Problem nicht allein sind und zu einer Tagesstruktur zurückkehren.
Im Lockdown ist das eine besondere Herausforderung: Wie gelingt es trotzdem?
Auch wenn die aktuelle Situation in geliebte Tagesabläufe reingrätscht, kann ich mir trotzdem Routinen verschaffen: Sich jeden Morgen schick anzuziehen, jeden Tag etwas kochen oder vielleicht endlich den Mittagsschlaf machen, der so lange ausgeblieben ist. Am meisten bringt es jedoch, vor dem Schlafengehen ein Dankbarkeitstagebuch zu führen. In dem ich mir jeden Tag drei Dinge notiere. Dinge, über die ich mich gefreut habe oder staunen konnte.
Sind Sie sicher, dass jeden Tag drei glückliche Momente zusammenkommen?
Anfangs ist es tatsächlich sehr herausfordernd, eigenartig und komisch. Aber es lohnt sich: Ich coache gerade eine Frau, die vor einem Jahr damit angefangen hat. Davor war sie vom Leben enttäuscht, schuld daran waren alle anderen. Heute berichtet sie, wie viele tolle Momente sich in den selbstverständlichsten Dingen verstecken. Allein, dass mein Blut fließt, ich sprechen und hören kann, ist ein Grund dankbar zu sein.
Vor Corona konnten wir am Wochenende ins Stadion, abends zum Italiener und danach noch ins Kino: Wir haben unser Gehirn einer absoluten Reizüberflutung ausgesetzt, wie können wir lernen, Freude für die kleinen Dinge zu entwickeln?
Dahinter steht ein tiefergreifendes Problem: Zerstreuung suchen wir immer dann, wenn wir Angst haben, zur Ruhe zu kommen. Erst ins Stadion, danach beim Italiener die Creme des Espressos analysieren – wie viel Dekadenz, Lust und Genuss steckt da dahinter? Jetzt ist die Zeit, mentale Baustellen aufzuarbeiten und sich zu fragen, warum wir vom Freizeit- und Entertainmentbereich so stark abhängig sind? Vor allem nach den Weihnachtsfeiertagen kommt im Coaching immer wieder auf, wie schön die Tage mit der Familie waren. Wenn ich aber nachfrage, wie sie geschlafen haben, kommen viele Teilnehmer ins Stocken. Tagsüber sind wir abgelenkt, aber irgendwann kommen die unangenehmen Themen zwangsläufig nach oben. Wir müssen deshalb an einen Punkt kommen, mit diesen Themen Frieden zu schließen. Dann schlafen wir auch besser, aber der Weg dorthin kann ein schmerzvoller sein.
Wie kann ich diese unaufgeregte Zeit nutzen, um so einen Prozess anzustoßen?
Zum Beispiel, indem ich anfange zu meditieren: In Zeiten der Distanz kann die Meditationsübung der Liebenden Güte, Verbundenheit und Nähe herstellen. In dieser Form gebe ich mir zuerst selbst Anerkennung und Wertschätzung. Im zweiten Schritt kann ich mir jemanden suchen, dem ich positive Energien senden möchte, zum Beispiel einem Kind oder einer nahestehenden Person. In meiner Vorstellung stelle ich mich vor ihr oder ihm auf und sagen: ‚Mögest du sicher sein, mögest du frei sein von Schmerz und Ängsten.‘ Diese Übung kann ich auch erweitern und mir Menschen vorstelle, mit denen ich überhaupt nicht klar komme, dann ergänze ich einfach, wie sehr ich mich freuen würde, sich wieder besser miteinander zu verstehen.
Wie schaffe ich mir dafür die passende Umgebung?
Wenn ich noch nie meditiert habe, ist es besonders wichtig, mir ein sicheres Umfeld zu schaffen, an dem ich nicht gestört werde, wo niemand hereinplatzt. Am besten schalte ich mein Telefon aus oder suche mir jemanden, bei dem ich mich wohlfühle und weiß, dass er mich gut und sicher leitet. Dann brauche ich es mir noch gemütlich machen: In eine Decke einkuscheln und eine Kerze anzünden.
Interview: Martin Gräwert, Foto: Ronald Bonß